Kuss der Stille/Tagebuchnotizen 2011
Befreiung
14.7.2011
Entfesselte Urgewalt in Form von Blitz und Donner, Regen und Wind, tobte in der Nacht über der Stadt und wischte die eingebrannte Hitze des Sommertages von dem Straßenpflaster und den Hauswänden.
Der Himmel wurde von sich verzweigenden Blitzen durchzogen, die sich manchmal zu einem riesigen Baum aus zuckenden Lichtfäden aufbaute, um dann spurlos zu vergehen.
Dann war der Himmel wieder blank und unberührt. Unveränderbar spannte er sich leer über der Stadt. Die Gewitterwolken zogen weiter in Richtung Norden.
Von dort flammten noch gelegentlich diese gigantischen gleißenden Blitze auf und warfen ihr Schattenspiel an den Horizont, bis auch das verschwand.
Später dann kamen dicke schwarze Regenwolken.
Der Regen fiel so dicht, dass die Kirche gegenüber manchmal nur noch als Schemen zu erkennen war. Fast schien es als ob sich das tausend Jahre alte Gemäuer in Raum und Zeit zu Nichts auflöste.
Nun am Morgen ziehen weiße Wolken dahin und durch kleine Lücken dazwischen leuchtet der blaue Himmel unbewegt auf die Erde herunter.
Das heftige Gewitter hat keinen Makel im Blau des Himmels hinterlassen können. Majestätisch erlaubt der Himmel den kleinen Wolken ihren Weg zu ziehen und so treiben ahnungslos die kleinen weißen Wolken über die ewige Endlosigkeit dahin, bis sie sich schließlich auflösen.
Zwischen der Ahnungslosigkeit der kleinen weißen Wolken und dem normalen Leben der Menschen gibt es keinen großen Unterschied.
Da gibt es dieses hektische Tun der Menschen, von Angst geprägt nicht genug zu haben, die wiederum durch die Angst geprägt ist, nicht genug zu sein.
Ahnungslose Existenz in der bedingungslosen Liebe der Ewigkeit.
Dem blauen Himmel allerdings ist alles willkommen. Auch dieses hektisch angsterfüllte Tun, das man normales Leben nennt, findet darin die gleiche heitere gelassene Betrachtung und hat die gleiche Wichtigkeit wie das Dahintreiben der weißen Wolken, die hier und da ihre Schatten auf das fieberhafte wahnsinnige Leben der Menschen werfen.
Die Menschen, ihren Begierden ergeben und in Ignoranz versunken, blind von Gier und Neid getrieben, nennen das ein normales Leben.
Doch es ist die Normalität des Wahnsinnigen, der alles zerstört, was um ihn herum erscheint. Ein Albtraum, als mein Leben benannt, Ertrinkende im Strudel von Verrücktheit, Boshaftigkeit und Gewalt.
Die Ignoranz, das Nicht-Hinsehen, die Nicht-Suche, ist aber doch ein Sehen, und zwar auf die Fixierung der Unwissenheit. Damit der Wahnsinn bestand haben kann, bedarf es eine bedeutende Kraftanstrengung.
Ohne diese Anstrengung endet der Wahnsinn sofort, da das Sehen immer ist und nie verlernt werden kann.
Mühelosigkeit, die Abwesenheit von Anstrengung sein-zu-müssen, ist Sein.
Das Fliegen des Vogels ist die Mühelosigkeit des fliegend Seins.
Das Schwimmen des Fisches ist die Mühelosigkeit des schwimmend Seins.
Die Form an sich ist die Mühelosigkeit des geformten Seins.
Das Fliegen des Vogels hat kein Drama in sich und das Schwimmen des Fisches ist ebenso frei von jeder Dramatik.
Das Leben des Menschen ist in seiner Substanz genauso frei von Drama und das ist der gleiche natürliche Zustand wie der dramafreie Flug des Vogels.
Da gibt es keinen Unterschied.
Könnte der fliegende Vogel seinen Flug als ungenügend oder nicht ausreichend empfinden, könnte die Möglichkeit der Selbstreflexion bei dem fliegenden Vogel über seine vorgebliche Ungenügendheit die gleiche mörderische Dimension der Menschen annehmen, so hätte man einen sehr unglücklichen Vogel.
Es würde die Suche nach dem Vogelglück und nach dem Sinn des Fluges selbst beginnen. Vielleicht würde es die Suche nach dem perfekten Flug sein, wer weiß das schon. Die Sucht der Suche löst die Sucht der Nicht-Suche ab.
Würde dann auf dieser Basis ein besonders waghalsiges und außergewöhnliches Flugmanöver gelingen, das dem unglücklichen Vogel die Anerkennung der anderen unglücklichen Vögel einbringen würde, dann wäre das ein glücklicher Vogel.
Allerdings nur bis zu dem Moment, an dem das waghalsige und außergewöhnliche Flugmanöver nicht mehr ausreicht, um Glück zu produzieren.
Nun muss das nächste waghalsige, außergewöhnliche Manöver gefunden werden und eine Spirale ist erschaffen, aus der es erst mit dem Tod des Vogels Befreiung zu geben scheint.
Doch Befreiung von Wahnsinn braucht nicht erst den Tod.
Befreiung ist schon und Ist das Leben selbst.
So gibt es keinen glücklichen oder unglücklichen Vogel, sondern nur Leben, das als Vogel fliegend am blauen Himmel seine Kreise zieht.
So gibt es nur das Leben, das auch als Mensch erscheinen kann und eben in dieser Form Lebendigkeit feiert, in all seiner scheinbaren Komplexität oder auch Schlichtheit.
Das Leben zieht seine Kreise am blauen Himmel der Existenz und hinterlässt keine Spuren.
Es ist nur für diesen Moment entstanden und vergeht auch wieder in Diesem.
Nicht mehr und nicht weniger.